Usbekistan: Dieses faszinierende Land mit seiner Mischung aus orientalischer Kultur und sowjetischem Einfluss bereisten wir – zwei Karateka aus dem Groß-Umstädter Karate Dojo – im Oktober 2019. Nach zwei erschütternden Tagen am Aralsee, bzw. an dem, was davon übriggeblieben ist, und zwei faszinierenden Tagen in den Oasenstädten Chiwa und Buchara stand dann ein Höhepunkt der Reise an: Der Besuch des Karate Dojos Navoi.
Die Kontaktaufnahme im Vorhinein gestaltete sich schwierig, aber letztlich gelang es uns, per Facebook Kontakt zu einem usbekischen Karate Dojo aufzunehmen. Wir fragten höflich an, ob es möglich wäre, an einem dortigen Training teilzunehmen, um mehr über die Trainingskultur und das Leben vor Ort zu erfahren. Mutal Nazarov, der auf die Anfrage antwortete, war ganz begeistert und schlug statt eines einfachen Trainings einen gemeinsamen Lehrgang vor, der in doppelter Hinsicht Brücken schlagen sollte: Zum einen natürlich die kulturelle Brücke zwischen deutschem und usbekischen Karateka – und zum anderen ist das Karate Dojo in Navoi ein Shinkyokoshin und kein Shotokan Dojo.
Einen Tag vor unserer Abreise aus Deutschland baten uns die usbekischen Gastgeber dringend um das Mitbringen einer Deutschlandflagge. Das stellte uns vor leichte Herausforderungen, denn üblicherweise haben wir so etwas nicht zuhause. Immerhin: als wir am nächsten Tag starteten, hatten wir nicht nur unsere Gis und diverse Gastgeschenke von unserem Cheftrainer Christian Gradl aus dem Karate Dojo Groß-Umstadt im Gepäck, sondern auch eine Deutschlandfahne.
In Navoi angekommen wurden wir von Mutal Nazarov abgeholt. Da in Navoi Touristen eine absolute Seltenheit sind und schon gar kein Tourist am Bahnhof wartet, waren wir schnell von hilfreichen Bahn- und Sicherheitsbeamten umringt, die freundlich um unsere Weiterfahrt besorgt waren. Mit Hilfe von Google-Translate schafften wir es schließlich zu vermitteln, dass wir von einem Freund abgeholt werden würden, sodass sich die Menschenmenge dann auch wieder verlief.
Mutal Nazarov brachte uns zuerst zum Dojo, wo wir mit dem Begründer des Karate in Usbekistan – seinem Vater Khasan – zunächst einen Tee tranken, wie es in Usbekistan üblich ist. Khasan Nazarov ist ‚Country Repräsentative‘ von Usbekistan bei diversen internationalen Wettkämpfen – zuletzt bei der Shinkyokushin Weltmeisterschaft in Kuala Lumpur, Malaysia. Im Anschluss an den Tee wurde uns die Stadt inklusive sehenswerter Moschee gezeigt und dann startete der Lehrgang.
Immer abwechselnd unterrichteten Mutal Nazarov und Alida Euler die Gruppe, die aus einer bunten Mischung von Kindern und Erwachsenen in allen Gürtelstufen bestand. Gelernt wurde auf vielerlei Ebenen: Zum einen arbeiteten wir die Unterschiede in den Ständen, in den Schlag- und Tritttechniken und – am Beispiel der Kanku Dai – in den Katas der beiden Karatestile heraus. Zum anderen war es für die Gruppe ungewohnt, auf gerade Reihen zu achten. Zum dritten fiel es den Gastgebern sehr auf, dass Alida von den beiden deutschen Gästen das Training gab. Zwar ist sie mir ihrem zweiten Dan zwei Gürtelstufen weiter als ihr Mann Christoph (1. Kyu), jedoch ist sie eine Frau. Die Gastgeber drängten mehrfach darauf, dass Christoph – also ‚der Mann‘ – Training geben sollte; jedoch hatten wir uns unter uns vorher darauf verständigt, dass Christoph als ‚Assistent‘ die Individualkorrekturen der Gruppe vornehmen sollte, während Alida den deutschen Teil des Trainings leitete. Die Geschlechterrollenbilder in Usbekistan sind faszinierend: einerseits sehr konservativ – und andererseits durch den langen sowjetischen Einfluss auch progressiv. Aber eine Frau, die selbstbewusst und selbstverständlich das Training leitete, obwohl ihr Mann anwesend war, schien eine Seltenheit zu sein und ist vielleicht sogar eine kleine Inspiration für die Frauen und Mädchen der Gruppe.
Nach dem Lehrgang fand für zwei Teilnehmer eine Gürtelprüfung statt, die – wohl wie im Shinkyokoshin üblich – aus diversen dicht aufeinanderfolgenden Freikämpfen bestand. Kata und Kihon spielten in der Prüfung keine Rolle. Im Anschluss an die Prüfung wurden die neuen Gürtel überreicht, wobei Khasan Nazarov jeweils eine Ansprache auf Usbekisch hielt, in der wir nur die mehrfach fallenden Begriffe ‚Republika Usbekistan‘ und ‚Dojo‘ verstanden. Das Karate ist in Usbekistan also mit einem starken Nationalstolz verbunden, der auch den Wunsch nach dem Mitbringen einer deutschen Fahne erklärt. Für das Gruppenfoto waren dann auch die usbekische und die deutsche Fahne außerordentlich wichtig und zum Foto wurde „Usbekistan – Germania“ („Germania“ ist der usbekische Begriff für Deutschland) skandiert. Diese Kombination von Rufen und Flagge war uns beide, die wir uns eher als ‚Europäer‘ als als ‚Deutsche‘ wahrnehmen, eine schwierige Situation. Da uns aber klar war, dass die Gastgeber uns dadurch höchsten Respekt erwiesen und die sprachlichen Barrieren eine Erklärung dieser diffizilen Fragestellung ohnehin unmöglich gemacht hätten, machten wir ‚gute Miene‘ und ließen diesen Teil des Lehrgangs ohne weitere Kommentare vorübergehen. Im Anschluss an den Lehrgang, als wir die Gastgeschenke – inklusive der Fahne – übergeben hatten und ebenfalls mit Geschenken überhäuft worden waren, kamen nahezu alle Teilnehmer in kleinen Gruppen auf uns zu, um ein Foto mit der Deutschlandfahne und uns zu machen.
Insgesamt sehr überraschend für uns war die Wertigkeit, die unser Besuch für das Dojo in Navoi hatte, da wir ja ursprünglich einfach von einem Trainingsbesuch ausgegangen waren: Für den Lehrgang hatten die Gastgeber nicht nur die lokale Zeitung, sondern auch zwei Fernsehsender eingeladen, die über den Besuch der deutschen Gäste einen Beitrag drehten und ein Interview mit uns aufnahmen. Dieser Beitrag wurde tatsächlich im usbekischen Fernsehen landesweit ausgestrahlt.
An den Lehrgang schloss sich ein traditionelles usbekisches Gastmahl an, bei dem wir feststellten, dass man sich auch mit den recht rudimentären Englischkenntnissen der Gastgeber, Google-Translate, vielen Gesten und viel gutem Willen wunderbar verstehen kann. Es ist in Usbekistan üblich, dass bei jedem Griff zum Glas ein Trinkspruch verkündet wird, sodass wir während des langen Essens diverse Male unsere Freundschaft, die Verbundenheit der Karateka weltweit, zukünftige Besuche und das persönliche Wohlergehen aller Beteiligten begossen. Schließlich wurde Alida sogar von Khasan zu einem traditionellen usbekischen Tanz aufgefordert (das Video halten wir sicherheitshalber unter Verschluss).
Gegen Mitternacht fuhren wir mit dem Nachtzug weiter nach Samarkand, da unsere Zeit in Usbekistan sehr knapp bemessen war. Die Erlebnisse im Karate Dojo Nur-Has in Navoi gehören aber auf jeden Fall zu den Highlights dieser Reise und wir hoffen sehr, dass wir in nicht zu ferner Zukunft wieder ein gemeinsames Training durchführen können – entweder wieder in Usbekistan oder vielleicht sogar irgendwann in Deutschland.
Alida und Christoph Euler, Karate Dojo Groß-Umstadt
Text und Bilder: Alida und Christoph Euler.
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